Einen Asperger lieben
Unwissenheit
Eigentlich bin ich nur dankbar, dass ich nicht wusste, was auf mich zukommt als ich Bob damals unter Tränen schluchzend „Ja“ sagte. Er kniete vor mir und hatte mich gefragt, ob ich ihn heiraten will. Wenn ich geahnt hätte, was wir gemeinsam erleben sollten, wäre es direkt anmaßend gewesen zu glauben, dass ich diese Aufgabe bewältigen kann. Die Aufgabe mit einem Autisten eine Großfamilie zu gründen in der auch einige Kinder belastet und besonders sind. Nur weil wir es nicht wussten, haben wir diesen Weg gemeinsam begonnen. Einen Weg, der viele Tiefen hatte, der unbeschreiblich beschwerlich war, der jedoch zu einer tiefen, glücklichen, erfüllten Liebe geführt hat. Eine Liebe, die wie ein großer Schatz ist, der jedoch tief vergraben lag unter Schwierigkeiten, Fragen, Tränen, Erschöpfung, Überforderung, Unverständnis und leider manchmal auch Verzweiflung. Ich habe immer gehofft, dass dieser Schatz zu finden ist, dass wir den „Transformator“ finden der unser Miteinander gelingen lässt und eine Erklärung, warum alles so schwer ist.
Unverständnis
Heute könnte man die Ursache für unsere Schwierigkeiten in das Wort „Autismus“ packen. Es ist für mich wie eine Überschrift. Aber man könnte auch das Wort „Anders“ nehmen. Für mich ist mein Mann anders, für ihn bin ich anders. Wir nehmen anders war, wir fühlen anders, wir kommen aus unseren Familien mit ihren Gewohnheiten, unseren Erfahrungen, Vorstellungen und jeweils mit einem Gehirn, das völlig unterschiedlich abspeichert, arbeitet und verarbeitet. Irgendwie ist das bei jedem Paar so. Auch wir wussten, dass Mann und Frau sehr unterschiedlich sind und wir dachten gut vorbereitet zu sein auf unsere Ehe. Wir hatten Bücher gelesen, viel geredet und wollten eine Beziehung auf guter, solider Basis führen. Doch nach der Heirat begann für uns beide eine neue Zeit. Für mich eine Zeit der Tränen und der Traurigkeit. Für meinen Mann eine Zeit der Überlastung, Überforderung und des Rückzuges. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass ihm der Rückzug, der sichere Ort, die Insel zum Auftanken fehlte und er sich nicht mehr aktiv dafür entscheiden konnte mit mir zu kommunizieren. Ich war ständig da, ein permanenter Reiz, ein Unsicherheitsfaktor, dem er nicht mehr entrinnen konnte und der ihn erschöpfte. Wenn man jemanden liebt, dann will man ihm Gutes tun und bemüht sich auf vielfältige Weise darum. Und so tat ich alles was ich unter „Lieben“ verstand. Und mein Mann auch. Doch die Botschaften, die beim anderen ankamen waren oft das Gegenteil von dem, was wir beabsichtigt hatten. Er meinte mir etwas Gutes zu tun indem er mich „in Ruhe lies“, mich „mein Ding“ machen ließ, sich „nicht einmischte“ und mich nicht „zu-textete“. Darüber hinaus war er absolut verlässlich, (absolut!) pünktlich, (manchmal zu) ehrlich, systematisch, fleißig, ordentlich und versorgte seine Familie gewissenhaft. Es war für ihn nicht verständlich warum dies nicht ausreichte damit seine Frau mit seiner „Leistung“ als Ehemann „zufrieden“ war. Was wollte sie denn noch? Auch nachdem wir uns mit den „fünf Sprachen der Liebe“ beschäftigt hatten, fühlte ich mich nicht geliebt. Denn seine Sprache der Liebe war für mich wie von einer anderen Welt. Es war für mich „Die sechste Sprache der Liebe“. Denn innerlich war er weit weg. Ich fühlte mich alleine gelassen, nicht wahrgenommen und mich verletzte sein Verhalten sehr. Ich sehnte mich nach Anteilnahme, Trost und seiner Nähe. Denn ich wollte mit ihm ja keine Firma gründen sondern eine Ehe führen. Wenn ich ihn umsorgte fühlte er sich bedrängt, wenn ich Fragen stellte nervte ich ihn, wenn ich ihn freudig umarmte, erschrak er. Wir fühlten uns beide unverstanden – obwohl wir uns liebten.
Eine Rolle spielen
Da ihm als Asperger Autist das soziale Miteinander ein Rätsel ist und er nicht intuitiv weiß, was andere von ihm erwarten, hat er im Laufe der Jahre das auswendig gelernt, was an Erwartungen der Umwelt ihm klar wurde. Jede Geste, jede Mimik, Körpersprache, Betonung, Sätze und Verhaltensweisen, die wir oft ohne Nachdenken – natürlich auch mit einer gewissen Fehlerquote – im Alltag zeigen, hat er wie Vokabeln abgespeichert. Für alle Situationen, für die er solch ein „Skript“ besitzt, kann er sich –wie ein Schauspieler- meist recht unauffällig verhalten und sein Autismus bleibt unsichtbar. Sein Leben ist wie tagtäglich auf der Bühne stehen und die Rolle des Menschen spielen, der zu sein von ihm erwartet wird. Bis zu einem gewissen Grad müssen wir das alle tun, daher meinen viele, sie „kennen“ dies. Irgendwie müssen wir alle in unsere Rolle als Ehefrau/Mann oder Vater/Mutter hineinwachsen. Doch die Intensität, wie weit das Fehlen diese intuitiven Verständnisses geht, ist bei einem Asperger viel ausgeprägter als bei uns Neurotypischen (im Sinne von Nicht-Autisten). Auch sind seine eigenen Bedürfnisse anders gelagert als die der meisten Mitmenschen um ihn herum. Er wünscht sich Vorhersehbarkeit, Ruhe, Routinen, Verlässlichkeit, Berechenbarkeit, Gleichförmigkeit, Ordnung, Struktur, Fakten, (absolute!) Ehrlichkeit, Korrektheit, Sicherheit, Klarheit, Logik, Sauberkeit, Pünktlichkeit, Sinnhaftigkeit und Nützlichkeit. Da ist kaum Raum für Spontanität, emotional- freudige- Ausbrüche, Kinderlärm, vage Äußerungen wie „vielleicht“, „ein bisschen“, schmierige –wenn auch noch so strahlende- Schokoladenmünder, Entspannung, „einfach-mal-genießen“ und Unordnung. Noch dazu hatte er für die „Rolle“ als „Ehemann“ oder gar „Vater“ damals noch kein Skript. Das musste er erst im Laufe der Jahre schreiben. Wie viele Asperger hat auch mein Mann sehr empfindliche Sinne. Ohrstöpsel und eine Sonnenbrille sind sein steter Begleiter und auch im Alltag muss er häufig seine „Mickey-Mäuse“ aufsetzen da ihn die vielen akustischen Reize überfordern. Damit sind wir beide extrem unterschiedlich und haben auch so extrem verschiedene Bedürfnisse. Wenn ich mir Zuwendung wünsche wenn ich traurig bin, wünscht er sich Ruhe. Wo er vor der Heirat die von ihm erwartete Rolle des angepassten Verlobten noch spielen konnte, verließ ihn im Alltag nun die Kraft. Kein Mensch kann 24 Stunden am Tag auf der Bühne stehen und die Erwartungen der Mitmenschen erfüllen. Auch war er sich gar nicht im Klaren darüber wie sehr ihn diese Rolle(n) anstrengte(n). Sein Autismus wurde sichtbar und damit fühlte ich mich in gewisser Weise hinters Licht geführt. Denn er wurde fast wie ein anderer Mensch. Nie hatte er beabsichtigt mich zu täuschen. Er hatte stets nur versucht, meine Bedürfnisse zu erfüllen. Und ich konnte –weil wir nichts von seinem Autismus wussten- nicht einordnen, wie erschöpft er war …und warum. Erst durch unsere älteste Tochter erfuhren wir, dass Autismus zunächst (fast) unsichtbar – für die Außenwelt – gelebt werden kann- wenn die Kraft dafür da ist. Doch in einer Beziehung wird das sichtbar, was die Umwelt nicht wahrnehmen kann. Erst dann konnten wir beginnen uns wirklich zu verstehen. Zu begreifen, dass unsere Andersartigkeit noch weiter auseinander liegt als wir bisher geahnt hatten. Wir mussten lernen wirklich auf den anderen zu hören. Nur weil jeder beschreiben durfte, wie er wirklich empfindet, was wirklich seine Bedürfnisse sind und wir uns gegenseitig so annehmen konnten, begann unsere Beziehung zu heilen. Es war ein Prozess über viele Jahre.
Anerkennung der kleinen Fortschritte
Eigentlich für unsere Tochter beschäftigte ich mich viel mit dem Thema Motivation, Verstärkung und Beziehungsaufbau. Mir sind diese Themen auch in unserer Ehe ein sehr wichtiger Aspekt geworden. Denn als wir begannen ganz neu auf den Anderen zu hören und zu reagieren, machten wir natürlich auch Fehler. Nicht sofort konnten wir alles „richtig“ machen. Doch wir gaben uns Mühe. Ich habe oft in Gesprächen mit Anderen traurig festgestellt, dass sie erst darauf warteten, dass der Partner ihren konkreten Wunsch „richtig“ stillen musste, bevor sie eine Reaktion zeigten, die den Partner darin bestätigte, dass sein Einsatz lohnenswert war. Doch die fehlende Anerkennung der Bemühungen, der Frust es versucht zu haben und die fehlende Aussicht auf Erfolg frustrieren dann vielleicht dermaßen, dass der Partner nicht noch einmal einen Anlauf unternimmt. Er sieht keine Perspektive und die Abwärtsspirale setzt sich fort. In einer Partnerschaft mit einem Asperger ist die Perspektive ein ganz besonders wichtiger Aspekt. Denn ein Fass ohne (für ihn wahrnehmbaren!) Boden beginnt ein Asperger nicht zu füllen. Das hätte ja keinen Sinn. Wir haben zum Beispiel jahrelang eine Erinnerungsfunktion auf dem Handy als Hilfe gebraucht, damit mein Mann daran erinnert wird mich in den Arm zu nehmen. Das ist keine perfekte, endgültige Lösung. Doch sie ist pragmatisch und für beide Seiten eine Hilfe. Sie gab mir die sichere Aussicht auf Zuwendung. Ihm war es eine Hilfe und er konnte dadurch, dass sich mein „Liebestank“ füllte und ich weniger weinte die Kraft schöpfen, weitere Schritte zu wagen. Auch eine „Anleitung zum Trösten“ half uns, da er nicht intuitiv wissen konnte was mir gut tut wenn ich weine. So mag eine unbeholfene Umarmung, ein unsicherer, kurzer, gar „hölzerner“ Kuss, eine verstohlene Berührung nicht unsere Traumvorstellung vom ehelichen Alltag sein. Aber es ist ein Schritt in die Richtung unsere tiefsten Bedürfnisse zu erfüllen. Unsere Wünsche sind konkrete Vorstellungen darüber wie und wo Zuwendung erfolgen könnte. Diese können nicht alle erfüllt werden. Doch wenn unser übergeordnetes Bedürfnis nach Liebe prinzipiell nicht erfüllt wird, dann tut das weh. Die Bemühung dieses Bedürfnis zu erfüllen zeigt uns, dass unserem Partner an unserem Wohl gelegen ist. Und nur wenn wir diesen Schritt würdigen, wahrnehmen als solchen, können weitere erfolgen. Wenn wir die Bemühungen einen Weg zu gehen nicht anerkennen, sondern erst bei Erreichen des Zieles uns zufrieden geben, dann wird unsere Beziehung nicht heilen können. Denn kaum ein Ziel kann in einem Schritt erreicht werden. Und wir können keine Beziehung führen ohne uns -ungewollt- zu verletzen. Doch wir können uns diese Verletzungen vergeben. Und wieder neu anfangen. Mit unseren Möglichkeiten das Beste geben. Das hieß für uns auch manchmal, eine Wunschvorstellung an unsere Möglichkeiten anzupassen. Denn die Wünsche mussten realistisch und erreichbar sein um unnötigen Frust zu ersparen. Von daher ist ein Traum etwas, wovon man sich vielleicht rechtzeitig verabschieden sollte. Denn dieses Ziel bedeutet für den Anderen eine Last. Er kann es doch nie erreichen.
Annahme
Als wir offen waren anzunehmen wie weit unsere Empfindungen auseinander liegen, wie unterschiedlich wir wahrnehmen, da konnten wir erst erfassen, wie groß die Brücke ist, die wir jeweils zu dem anderen schlagen müssen. Und ob wir uns vielleicht in der Mitte treffen können. Wie groß die Anstrengung ist, die der Andere erbringen muss um diese Brücke zu überqueren. Anerkennung und Dankbarkeit über diesen Brückenschlag und unsere Bemühung kann uns motivieren neue Brücken zu schlagen und unsere Beziehung zu festigen. Denn jede Beziehung braucht diese Brücken. Ob wir einen Asperger heiraten oder „nur“ einen „durchschnittlichen“ Mann; wir sind alle anders. Einige nur etwas mehr… Ich wünsche Ihnen viel Kraft für diese Brücken! Ich wünsche Ihnen viel Mut, Zuversicht und gute Ideen für neue Wege im Miteinander! Ich finde: es lohnt sich. Und all jenen, die sich in ihrer Partnerschaft allein gelassen fühlen mit diesem Brücken-bauen wünsche ich, dass sie vielleicht doch noch die Kraft aufbringen darauf zu achten, wo ihr Partner mal einen unbeholfenen Versuch macht auf sie zuzugehen. Wo er Ermutigung braucht, wo er sich auch nach einer Brücke sehnt. Damit der Funke nicht verglimmt, der das Feuer der Liebe wieder entfachten könnte. Ich wünsche Ihnen Trost in traurigen Stunden; jemanden, der Ihnen zuhört, dem sie sich anvertrauen können und eine Kraftquelle, aus der Sie schöpfen können um eine Last zu tragen, die vielleicht niemand sehen kann. Und ich wünsche Ihnen Kraft, Verletzungen zu vergeben! Ihre Corinna Fischer
Corinna Fischer wurde in den 70igern geboren und hat mit Ihrem Mann Bob das Buch „Ich liebe einen Asperger“ (TRIAS Verlag) veröffentlicht. Die Autoren schreiben unter Pseudonym, um den Schutz der Kinder sicherzustellen. Corinna Fischer ist gelernte Kinderkrankenschwester, Bob Fischer arbeitet im IT- Bereich.
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