Wie ich von alten Menschen über das Leben lernte

Wie ich von alten Menschen über das Leben lernte

  • FacebookWhatsAppEmailShare
  • Bewerten:  
    Wie ich von alten Menschen über das Leben lernte
    4.5 (14)

Als ich vor einigen Jahren einem beruflich etwas desorientierten jungen Mann empfahl doch Altenpfleger zu werden, meinte der nur: „Was ich sicher nie in meinem Leben werden möchte, ist ein Arschputzer.“

Als Altenpflegerin bin ich es gewöhnt, dass Menschen meinen Beruf zwar als wichtig und unentbehrlich betrachten, gleichzeitig aber etwas angewidert die Nase rümpfen. Altenpflegerin? Nein, das könnte ich nie! Und auch ich habe mir damals als junge Frau, vor über 27 Jahren, diesen Beruf nicht bewusst ausgesucht. Er ist mir passiert. Schicksal. Zufall. Ein wunderbarer Zufall. Oder wie der 90 jährige Herr Bernstein, mein jahrelanger Patient in der mobilen Pflege, vor vielen Jahren meinte: „Das Leben ist eben unberechenbar.“

Was hält eine lebenslustige Frau in einem Beruf, in dem sie täglich mit dem Ende des Lebens und mit dem Tod konfrontiert wird? Warum tut sich eine junge, gut ausgebildete Frau das Arbeitsfeld Altenpflege an, in dem die Rahmenbedingungen alles andere als angenehm sind? Ist es Masochismus? Hat sie einen Hang zum Morbiden? Helfersyndrom?

Bei mir war es die Faszination Menschen zu begegnen. Menschen, die auf ein langes Leben zurückblicken und Resümee ziehen. Sie hielt mich in der Altenpflege, sie ist der Grund warum ich immer noch, heute als Trainerin, in diesem Feld tätig bin.

Wir Menschen lernen bekanntlich rückblickend aus dem Leben. Jede Erfahrung bringt uns weiter. Jede Lebenskrise lässt uns wachsen. Erst am Ende unseres Lebens wissen wir, wie das Leben funktioniert und was eigentlich wichtig ist im Leben. Es ist schon irgendwie absurd, dass wir genau dann die Bühne des Lebens verlassen müssen.

Mich haben die Lebensgeschichten und die Lebenserkenntnisse alter Menschen immer begeistert. Viele dieser Erkenntnisse konnte ich damals in jungen Jahren nicht sofort als auch für mein Leben wesentlich erkennen. Aber nach und nach, ich bin mittlerweile 51, erinnere ich mich immer öfters an Aussagen meiner alten Patienten und merke, dass diese mich sehr wohl geprägt haben.

Wenn ich etwa an Herrn Bernsteins Aussage „Das Leben ist unberechenbar. Man kann sich nur vom  Fluss des Lebens treiben lassen “ denke, dann muss ich lächeln darüber, wie oft ich in meinem Leben versucht habe in eine bestimmte Richtung zu steuern, irgendwelche angeblich wichtigen Ziele verfolgt habe, letztlich aber jedes Mal ganz wo anders landete als geplant. Weil das Leben eben seine eigene, unberechenbare Dynamik hat. Irgendwann auf meiner Lebensreise, ich glaube es war nach einem beruflichen Desaster, habe ich begonnen Vertrauen in mein Leben zu bekommen, habe ich angefangen mich treiben zu lassen in dem Wissen, dass am Ende alles gut sein wird.

Ich denke an die lebenslustige Frau Rothmann, die mit 85 Jahren und geschrumpftem runzeligen Körper so viel Erotik und Sinnlichkeit ausstrahlte, wie das viele Zwanzigjährige nicht schaffen. Auf meine Frage nach ihrem Geheimnis diesbezüglich strahlte sie mich an und meinte: „Na ich mag mich wie ich bin. Mit all meinen Fehlern“. Wann immer ich  morgens frustriert von der Waage steige oder meine tiefer werdenden Falten im Gesicht sehe, denke ich an Frau Rothmann und höre in mir ihre Stimme, die mir zuruft: „Hör auf damit. Du bist schön so wie Du bist.“

Wenn hochbetagte Menschen nicht mehr fähig sind alleine zu essen oder nicht mehr ohne Hilfe auf die Toilette gehen können, wenn sie scheinbar zu nichts mehr nütze sind, dann haben sie immer noch ihr, über die vielen Lebensjahre gesammeltes, Wissen. Sie haben ihren Erfahrungsschatz und ihre Erkenntnisse. Dieses Wissen wertzuschätzen und abzuholen ist für mich der wunderbare Teil meines Berufes. Altenpflege hat mich bereichert. Ohne die vielen alten Menschen, denen ich begegnet bin, wäre ich heute ein anderer Mensch.

Sonja Schiff leben Wie ich von alten Menschen über das Leben lernte gastautorin sonja schiffGastautorin Sonja Schiff

Sonja Schiff, geboren 1964, wollte eigentlich Fotografin werden, landete aber auf schicksalshafte Weise in der Altenpflege, wo sie 27 Jahre lang tätig war. Heute ist sie Alternswissenschaftlerin, Trainerin und Bloggerin. Kürzlich hat sie das Buch „10 Dinge, die ich von alten Menschen über das Leben lernte. Einsichten einer Altenpflegerin“ herausgegeben.

Bildnachweis: prometeus/Bigstock.com

.

.

    Konzept und Realisation - speedy space - a division of selpers FlexCo